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Samstag, 14. April 2018

Kultur als die einzige Barriere gegen Gewalt

Kultur und Gewalt sind keine Gegensätze, denn niemand tritt der Welt, die ihn umgibt, unvermittelt gegenüber. "Der Mensch könnte seine Gedanken und Empfindungen nicht mitteilen und könnte demzufolge nicht in sozialen Beziehungen leben," schreibt der Philosoph Ernst Cassirer, "wenn er nicht die eigentümliche Gabe besäße, seine Gedanken zu vergegenständlichen, ihnen eine feste, dauerhafte Gestalt zu verleihen." 

Die Kultur bringt die Gedanken in eine Form, und sie gibt dem Menschen die Werkzeuge in die Hand, mit der er die Welt erschließt. In der Kultur gewinnt das Leben Stabilität, die den Tag überdauert, und der Mensch kann sich durch sie überhaupt erst erzeugen, darstellen und erweitern.

Nur in der Kultur können wir Menschen sein. Durch sie geben wir uns einander zu verstehen und erschaffen uns eine Welt, in der wir zu Hause sind. Aber wir sind nicht in der Kultur schlechthin zu Hause, sondern in einer historisch gewordenen, die sich von anderen Kulturen unterscheidet. "Die Menschenwelt ist keine von allem losgelöste Entität, keine Wirklichkeit für sich," sagt Cassirer. "Der Mensch lebt in einer materiellen Umgebung, die ihn ständig beeinflußt und seinen Lebensformen ihren Stempel aufdrückt."

[Kultur ist nicht etwas, das keine Zeit und keinen Raum hat,] sie ist kein Instrument der inneren Repression, das die Gelüste im Zaum hält. Solch eine Interpretation widerspricht allen Erfahrungen, die Menschen mit der Gewalt gemacht haben.

[Menschen, die über Jahre mit der Gewalt leben] verändern ihre sozialen Beziehungen, sie werden mißtrauisch, sie planen nur noch für den Tag, nicht mehr für Jahre, sie sind bereit, zu töten, wenn es sein muß, und sie werden autoritären Konzepten der Macht den Vorzug gegenüber offenen, liberalen Modellen der Herrschaft geben, weil alles, was sie brauchen, Sicherheit ist. Denn offene Möglichkeiten und Risiken kann man sich erst leisten, wenn Leib und Leben nicht mehr täglich in Gefahr sind. Man kann sich auch in der Gewalt einrichten, sich mit ihr arrangieren und ihre Techniken erlernen.


Jörg Baberowski in "Räume der Gewalt"






*030418*