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Freitag, 1. April 2011

Die üblichen Verdächtigen

Eric Hoffer, ein Hafenarbeiter aus San Franzisco, auf den Hannah Arendt erstmals aufmerksam wurde, weist in seiner legendären Untersuchung "Der Fanatiker" darauf hin, daß es nicht die ganz Armen sind, und auch nicht die einfachen Arbeiter, die das revolutionäre, umstürzlerische Potential einer Massenbewegung bilden. Im Gegenteil, diese Schichten empfinden Armut als normal, und gelten zu den konservativsten gesellschaftlichen Faktoren. Der wirklich Arme - und es klingt beinahe zynisch, ist es aber nicht - hat sehr konkreten Inhalt im täglichen Überlebenskampf, und deshalb "sinnerfüllt" (sic!) und immun gegen Massenbewegungen. Wirklicher Existenzkampf hat statische, nicht dynamisierende Wirkung. Die Geschichte Chinas ist beredtes Beispiel dafür.

Ganz anders aber ist es bei den kleinbürgerlichen Schichten der "Neo-Armen" - den Beamten, den mittelständischen Angestellten, den Akademikern, den höhergestellten Arbeitern! In Rezessionszeiten sind sie es, die den Verlust an Lebensstandard durch Arbeitslosigkeit oder Inflation am wenigsten verkraften und tief persönlich - als Degradierung - empfinden. Entsprechend beginnt die Unzufriedenheit der "Armen" auch erst dort, wo sie an der Schwelle zu dieser Zufriedenheit stehen (und man könnte meinen, daß die Situation im arabischen Raum diese Aussage unterstreicht) und ihr Existenzkampf ein sehr bescheidenes, aber leidliches Auskommen ermöglicht, ein "mehr" damit realistisch erreichbar scheint. Tocqueville schreibt einmal, daß er ganz überrascht gewesen sei zu entdecken, daß allen untersuchten Revolutionen - wie in Frankreich 1789 - eine 20jährige Periode steigenden Wohlstands vorangegangen war. Kummer ist dann am wenigsten erträglich, wenn er schon fast nicht mehr existiert! "Die Franzosen haben ihre Lage umso unerträglicher empfunden, je besser sie wurde."

(Es ist auch von Hitler überliefert, daß er 1933 als fast letzte Chance sah, seine Ziele umzusetzen: er wußte, daß sein Zenit überschritten war, und daß die Volkswirtschaft bereits wieder nach oben zeigte, die entscheidende Phase also.) Auch hier scheint der arabische Raum dieser Tage als Beleg gelten zu können.

Nicht das Leiden treibt zur Revolte, sondern der Vorgeschmack besserer Dinge! Hoffer schreibt 1933 (!), daß der gefährliche Moment für die kommunistischen Staaten dann gekommen sein wird, wenn eine beträchtliche Verbesserung der ökonomischen Situation der russischen Massen bereits erreicht ist und das eiserne totalitäre Regime nachgelassen hat. Wer dächte da nicht an Rußland und Gorbatschow 1989? Die Unzufriedenheit steigt, schreibt Hoffer, in dem Maß, wie die Nähe zum Ziel, zum Gelobten Land zunimmt (und umgekehrt.) Der Mensch setzt für das Unnotwendige, Überflüssige mehr aufs Spiel, als fürs Notwendige. Und oft, wenn er aufs Überflüssige verzichtet, hört er auf, am Notwendigen (das ihm nach wie vor fehlt) Mangel zu verspüren.

Die persönliche Disposition jener, die (gerade) etwas verloren haben (das sie wieder zu gewinnen hoffen), macht sie zur idealen Komponente jeder Massenbewegung, und es ist historisch zu zeigen, daß es die Charakterbilder, keineswegs die politische Ausrichtung sind, die das entscheidende Kriterium bilden. Ob links oder rechts ist nebensächlich - beide Richtungen wissen, daß ihr größtes Anhängerpotential jeweils im "Gegner" vorhanden ist.

In einer Sklavengesellschaft sind nicht die Sklaven die Gefährlichen, die Rebellen.  Es sind jene, die gerade erst in Sklaverei geraten sind, oder die bereits freigelassen wurden. Bei letzteren ist die Last der Freiheit (!) Ursache der Unzufriedenheit. Von der Freiheit frei zu werden, ist deshalb eines der stärksten Motive, einer Massenbewegung bzw. gesellschaftlichen Massenströmung beizutreten. Denn angesichts der Notwendigkeit, in Freiheit mit sich etwas anzufangen, wird das Empfinden des schwachen Ich unerträglich.


*010411*