Teil 2) Die Risikogruppen des Fanatismus
Was sind weitere Risikogruppen, die Hoffer anführt? Es sind die
aufgrund irgendwelcher (auch körperlicher) Mängel oder Talentlosigkeit Zu-kurz-Gekommene,
denen endlich auch ein Zugang eröffnet wird (und wer möchte da nicht
sofort an den Feminismus denken), weil die bisherigen "natürlichen"
Zugangsschranken fallen.
Es sind die Selbstsüchtigen (wird heute
nicht zur Selbstsucht, im Hinerziehen zum Subjektivismus als Kriterium,
regelrecht hinerzogen?), und des sind die Ehrgeizigen - vor unbegrenzten
Möglichkeiten. Denn vor ihren Augen vollzieht sich ein Abwertungsprozeß
der Gegenwart, der sie enttäuschen muß: weil soviel ungenützt bleiben
muß. Neben den Minderheiten aufgrund ihrer
Assimilationsbereitschaft - an den oberen Enden (den Erfolgreichen, die
nun erleben, doch nicht ganz dazuzugehören) wie an den unteren (die ihre
Assimilationsbereitschaft nicht belohnt finden).
Neben den Gelangweilten -
wer in den Existenzkampf verstrickt ist, hat keine Langeweile; aber wer
die Wertlosigkeit der eigenen Bemühungen erfährt (weil er ohnehin
überlebt, sich selbst also nicht einmal benötigt), wer sich nicht
schöpferisch sein Leben gestaltet, der empfindet Langeweile.
Übrigens,
meint Hoffer, sei das der Grund, warum bei Massenbewegungen alte Jungfern oder Frauen in vorgerückten Jahren oft so entscheidende Hebammendienste leisten.
Ja, und schließlich bleiben noch die Sünder -
nichts bietet dem schlechten Gewissen solche Entlastung und Entspannung
wie das "sinnvolle Aufgehen" in der Massenbewegung! Deshalb lebt eine
solche Bewegung auch davon, wie sie "reuige Sünder" integriert, wie sie
ihre "Sühne" annimmt. Wer dächte da nicht sofort an die "Umweltsünde",
die gutzumachen ist?
Die Massenbewegung, schreibt Hoffer, infiziert die Masse mit jener Krankheit, von der sie sie dann heilt.
Eine wirkliche Massenbewegung des Fanatismus muß deshalb das
Sündenbewußtsein aufrechthalten, von dem nur sie zu erlösen vermag:
durch Aufgehen des "Ich" in der Gemeinschaft. Die heutigen
Weltanschauungen und Moralismen sind ja über weite Strecken nicht mehr,
als Versprechen, von den Sünden (und sei es simple Sittenlosigkeit) zu
erlösen, an denen man leidet, ja zu denen man animiert wurde (wem fiele
da nicht sofort der "Sexual-Aufklärungsunterricht" ein?) - wenn man
ihnen beitritt.
Die Parallelen liegen so auf der Hand ... Es ist der
Sozialstaat, genau jener in dem wir heute leben, er entspricht am
perfektesten den Kriterien der Vermassungs-Totalitarismen, wie immer man
es dreht und wie immer man es wendet. Punkt für Punkt findet sich somit
in Europa verwirklicht, was Hoffer vor fünfzig, sechzig Jahren - aus
den Beobachtungen an Deutschland und Rußland heraus, zumindest
vordergründig - als Schreckgespenst an die Wand malte: als
Massenphänomen wie als Phänomen der Vermassung namens Fanatismus.
*050411*