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Mittwoch, 6. April 2011

Wenn die Kirche endlich weg ist

"Wenn die religiöse Geisteshaltung unterminiert ist," schreibt Eric Hoffer unter Bezug auf Tocqueville, "wird die aufkeimende Massenbewegung nationalistisch, sozialistisch oder rassisch geprägt. Die Französische Revolution entstand nicht als Reaktion gegen die harte Tyrannei der Katholischen Kirche und des Ancien Regime, sondern gegen deren Schwäche und Wirkungslosigkeit." 

Den nächsten Satz lassen wir weg, und bringen ihn an anderer Stelle, später einmal. Hoffer rechnet auch die Kirche zu den Totalitarismen, und da geht er prinzipiell zu weit, weil er die Mechanismen der Identitätsbildung an sich falsch sieht, ja da übersieht er sogar das prekärste Gefahrenmoment des Totalitarismus: das der wirklichen Identitätsstiftung. Nicht jede Großeinheit ist schon deshalb und prinzipiell totalitär, weil sich in ihr individuelle Ziele zusammenfassen und weil sie Identität stiftet. Aber das ist ein anderes Thema.

So sehr, keine Frage, dieselben Mechanismen auch in der Kirche zu beobachten waren, ja in so manchen Strömungen regelrecht Renaissance erfahren, und nicht selten in Bewegungen, die als "neu" tituliert - nichts sonst tun, als solche Vermassungsphänomene in die Kirche zu tragen, wo sie fröhliche Urstände feiern.

Doch darf nicht übersehen werden, daß der Fanatismus wie die Vermassung, als Aufgehen des Ich im Kollektiv, die Perversion eines an sich natürlichen Selbstüberschreitens in der Hingabe sowie Hingeordnetseins des Menschen auf die Einigung mit dem Allen, dem Sein, mit Gott darstellt. Das zu unterscheiden aber ist nicht wirklich schwer. Es verlangt allerdings präzise Differenzierung und dafür Kenntnis der Materien. Dann stellt sich sehr rasch heraus, daß der Mißbrauch bzw. das Mißverständnis des wirklichen Vorgangs des Glaubens (wie auch in der Mystik) nur aus mangelnder gedanklicher, geistiger Durchdringung, dem Herausgreifen von Schlagworten und aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen stammt. Ja, im letzten immer wieder an persönlichem Fehl und unredlichem Wollen scheitert: als simple Abkürzungen, um vor allem den Boden aller Gottesnähe, die Läuterung, die Reinigung, zu umgehen. Gerade die Selbstaufopferung kann eben NICHT Flucht vor sich selbst sein - und genau hier scheiden sich die Geister.

Wobei im Grunde auch hier gilt: Auf der Ebene der Phänomene macht Hoffer in "Der Fanatiker" - einer Materialsammlung, wie er immer wieder betont, kein "Lehrbuch" - in jedem Fall phänomenale Beobachtungen. Denn er erfaßt auch diesen Punkt, wenn er schreibt, daß "die Technik einer aktiven Massenbewegung im Wesentlichen darin besteht, daß sie Neigungen und Reaktionen einzupflanzen sucht, die dem Gescheiterten angeboren [natürlich] sind."

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"Alles was ich sage, ist Gespräch, und nichts davon sei Rat! Ich spräche nicht so kühn, wenn man mir glauben müßte."

(Michel de Montaigne)

*060411*