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Donnerstag, 2. August 2018

Ideologie als Reaktion der Scham (1)

Der Mensch findet sich in seinen Grundkomponenten seiner Existenz als "in die Welt Geworfener" (Heidegger). Für die wesentlichen Bestimmungen seines Hierseins kann er nichts, sie sind über ihn "verhängt". Stand, Talente, Attraktivität, Familie ... nichts davon konnte er sich aussuchen. Die Idee des Postmodernismus ist nun, sagt Jordan Peterson in diesem Vortrag, den er auf der Universität von Wisconsin in Madison im November 2017 hielt, daß diese Vorbedingungen als Ungerechtigkeit gesehen werden. Diese Ungerechtigkeit ist durch vielfältigste Ideologie zementiert.

Peterson versucht dazu erst einmal die Frage zu klären, ob es eine Philosophie jenseits der Ideologie gibt. Denn es stimmt natürlich auf eine Weise, daß jedes Menschen Denken zuerst einmal von Prämissen bestimmt ist, von Deutungshorizonten, auf die hin er sein Denken ausrichtet, und die er auch nicht wirklich ablegen kann. 

Aber, um es in klassischer Scholastik auszudrücken, wenn es auch stimmt, daß sich jedes Denken in subjektiver Form zeigt, so ist es doch die Teilnahme an einer darüber hinaus - "außen" - vorliegenden Wahrheit. Ohne die Kommunikation, Sprache gar nicht möglich wäre. Es muß sich also jeder Mensch auf diesen Horizont beziehen, und die, die das bestreiten, die also die Existenz einer Wahrheit bestreiten, legen davon das beredtste Zeugnis ab. Denn sie könnten diese Aussage gar nicht treffen, wenn sie nicht exakte Informationen über die Wahrheit hätten und also eine Wahrheit formulieren. Also muß sie auch erkennbar sein. Zwar ist also alles Denken subjektiv, aber das ist nur die Art und Weise, wie sich Wahrheit zum Ausdruck bringt. Umso mehr kommt es auf die subjektive Verfaßtheit an, sich dieser Wahrheit zu öffnen. Und hier hat die Psychologie ihren Ort.

Was unserer Kultur zugrunde liegt

Aber so weit sind wir noch nicht. Vorerst einmal muß konstatiert werden, daß das Leben für jeden Menschen ein Problem darstellt. Denn jeder findet sich in einem Geflecht von Leiden wieder, das ist unbestreitbar.  Peterson interpretiert den Sündenfall so, wie er in der Genesis beschrieben wird. Er begründet die Existenz von Leiden durch ein "fiktionales Bild" (Peterson), das sogar wahrer sein kann als die Realität selbst. Weil es eine Grundmatrix ausdrückt, die jedem Mensch untergelegt ist, der als deren Verwirklichung erscheint. Fiktion (der Begriff "fiction" hat im weit weniger als das Deutsche präzise Englisch eine weitere Bedeutung als "Fiktion" bei uns gebraucht wird, das eher ein willkürliches Phantasieprodukt meint) destilliert diese Grundwahrheit und präsentiert sie in einer konzentrierten Form. 

Der Kern der Genesis ist die Gewahrwerdung von Gut und Böse der uns umgebenden Welt, und der damit verbundenen eigenen Verletzlichkeit. Die in der Nacktheit der übrigen Gesellschaft ausgeliefert wird. Diese Scham hat jeder, und sie ist ein Wissen darum, daß man den Anforderungen des Lebens nicht vollauf gewachsen ist. Diese Erzählung der Genesis, das Wissen darum, begründet zweifelsohne unsere ganze westliche Kultur, denn aus diesem Bewußtsein der Verwundbarkeit erwächst auch die Arbeit. Sie ist die Reaktion, dieser Unzulänglichkeit zu begegnen, und bezieht von da her ihren Zukunftsaspekt, denn schon nächste Woche oder nächstes Jahr können neue Probleme auftauchen, die man nicht lösen kann, und für die vorgesorgt werden muß. 

Wie es der Marxismus deutet

Eine ganz andere Position bezieht hier der Marxismus, auf dem der Postmodernismus ja beruht. Er hält dieses Leiden nicht für unausweichlich, sondern er geht davon aus, daß es vermeidbar wäre. Und daß alles im Menschen darauf abzielt, das zu erreichen.

Dostojewski hat das lange vor der Manifestation dieser Utopie vorweggedacht. Hat es aber als Kritik an der Verfaßtheit des Menschen gemeint als er schrieb, daß dieser sogar in einer Situation, in der es ihm an nichts fehlte drangehen würde, diese Statik zu zerreißen und Probleme zu "machen". Es ist also zweifelhaft, ob die Menschen in einer Rundumversorgung überhaupt glücklich wären. Denn es gehört zum Menschen dazu, das Transzendente, das hinter allen Normen Stehende zu erfahren. Sie tun deshalb auch schwierige Dinge oft nur deshalb - klettern auf Berge, betreiben Extremsport, bringen ihr Leben in Gefahr. Dafür gibt es technisch gesehen ja keinen Grund, es ist zu nichts "nutze". Offensichtlich gibt es also doch mehr als nur Leidvermeidung.

Der Marxismus sieht das nicht im Menschen selbst verankert. Sondern er sieht die Ursache des Leidens in der sozialen Struktur, die von einer Klasse der Unterdrücker beherrscht wird, deren grundlegendste Form das Patriarchat ist. Denn er kann (als Materialist, mit der Erklärung des Evolutionismus) alles, was im Menschen ist, nur aus materiellen "Zwecken" erklären. Und die sind: Überleben, also: Macht. Die sind ausschließlich sozio-ökonomischer Wohlstand. 

Und diese Macht hat verschiedenste Formen der Erzählung implementiert, in denen diese Unterdrückung der einen durch die anderen einzementiert wurde. Weil der Mensch Kollektivwesen ist, stehen sich somit immer Klassen gegenüber - Unterdrücker gegen Unterdrückte. Letztere sind die Opfer, und sie müssen sich also gegen die Unterdrücker erheben, wollen sie in den Genuß der Früchte dieser Erde kommen. Die sozialen Strukturen der (kapitalistischen, westlichen) Gegenwart sind nämlich immer korrupt und verhindern, daß jeder sich adäquat entfalten kann. Und weil es keine Transzendenz gibt, sind immer identifizierbare Menschen an allem schuld. Und alle sozio-ökonomischen Strukturen, die "Klassen" ausmachen.

Darin steckt freilich ein Fünkchen Wahrheit, das gibt es freilich auch. Aber der Marxismus nimmt es als Grunderklärung für sämtliche Vorgänge in unseren Gesellschaften, so daß jeder Unterschied zu einem Gefälle von Ungerechtigkeit wird.


Morgen Teil 2)




*210618*