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Sonntag, 5. August 2018

Von der Wahrnehmbarkeit des Moralischen und der Sittlichkeit einer Kultur (1)

Wir machen gerne den Fehler einfachhin davon auszugehen, daß alle Menschen dasselbe fühlen und wahrnehmen wie wir. Daran ist zwar etwas Richtiges, aber auch etwas sehr Falsches. 

Wahr ist, daß wir alle in derselben Wahrheit leben. Die zwar in allen möglichen historischen und lokalen Erscheinungen auftritt, sich aber in ihrem tieferen Grund, der wirklichen Wirklichkeit, auf eine einzige Wahrheit zurückführt. Diese ist es, von der man sagt, daß sie widerspruchsfrei sein muß. Und das trifft auch zu, wenn man sich ihr nähert. Das heißt, aus der Fülle von Faktischem, das uns umgibt, die innersten Grundzüge destillieren, also abstrahieren. Dieser Wahrheit unterliegen tatsächlich alle Menschen gleichermaßen, sie unterliegen ihr und - sie begegnen ihr. Niemand ist davon ausgenommen.

Wahr ist aber auch, daß nicht jeder dieser Wahrheit auf dieselbe Weise begegnet. Wenn wir sagen, daß zu abstrahieren ist, so muß der jeweilige Mensch dazu aber in der Lage sein. Muß jeder also ein studierter Philosoph sein? Nein, ganz sicher nicht. Er braucht etwas anderes, etwas das jeder Philosoph, der im Medium der Sprache diese Wahrheit "ortet", wiegt, zählt, um es einfach zu machen, was also der Philosoph ganz genau so zuerst braucht: Er muß von sich und allem Faktischen, das ihn gerade umtreibt, von allen Süchten und kleinen Wünschen und großen Gefühlen zurücktreten können. Darf also nicht getrieben sein. 

Und dazu muß er seine Gegenwart durchleuchtet haben, sodaß sie ihn nicht ängstigt, damit er sich frei zur Wahrheit verhalten kann. Und nicht von ihr wie von allem "etwas will". Will, daß sie ihm zu Nutze ist, daß sie ihm Werkzeug ist, mit der er in der Welt herumwerkeln kann. Nichts anderes ist von jedem Tischler, Stahldreher, Landwirt oder Betriebsleiter verlangt. Er muß über sich hinwegsteigen und zum sachlichen Kern der Welt vordringen können, er muß also von der faktischen Welt absehen, das Zufällige damit aussondern können, um sachlich denken, urteilen und handeln zu können. Er darf nicht daran denken, daß er jetzt lieber eine Cremeschnitte oder am liebsten über die hübsche Nachbarin herfallen möchte, um es noch einmal simpler zu machen.

Erst so kommt sein Denken mit dem sinnlich Erfaßten von der Welt - mit den Sinnesdaten - zur Übereinstimmung. Er muß sein Denken von allen Getrieben- und Gezogenheiten freimachen können. Er muß, um es nun beim Wort zu nennen, "sittlich" sein. Damit haben "Ethik" und "Moral" zwar irgendwie zu tun, aber diese Begriffe sind nicht immer deckungsgleich und haben andere Bezogenheiten.

Das bedeutet, daß nur dem sittlichen Menschen eine wahrheitsgemäße Interpretation von Sinnesdaten zur Verfügung steht. Überall sonst ist das Wollen und Urteilen (als Entscheiden) in eine Ebene eingeflochten, die nicht dem tieferen Grund, also der eigentlichen Wahrheitsgestalt entspricht. Mal mehr, mal weniger, aber immer mit Trübung, und in vielen Fällen sogar ganz. Dort, wo sich sein Wollen ganz im Faktischen bewegt und in einer Art inneren Spaltung keinen Zugang mehr zur tieferen Matrix der Welt findet. Wie es beim wirklich Bösen, beim vom Bösen Besessenen, oder beim Geisteskranken der Fall ist.

Damit ist klar, daß nur dem sittlich Klaren, dem sittlich Reifen auch die Sinnesdaten als Auskunft über die Wahrheit der Welt gelten. Nur sein Fühlen also kann zu einer Wahrnehmung werden (die bereits ein Urteil über die Sinnesdaten einschließt), in der auch die wirklichen Qualitäten der Objekte seiner Wahrnehmung (der Welt also) ins Denken und Urteilen und damit Sprechen kommen.

Was so abstrakt klingt zeigt sich uns in vielen Beispielen. Man nehme nur einen richtigen Weinkenner. (Der VdZ hat es beim Wein noch nicht, aber in früheren Jahren beim Tee zu mancher Meisterschaft diesbezüglich gebracht.) Er muß nach vielen Lernprozessen von seinen Sinnen soweit zurücktreten können, als er die geistige Struktur gewissermaßen des Weines, den er vor sich hat, auf Eigenschaften abstrahieren kann, die dem "normalen" Bürger verborgen bleiben. Das kann zu einer Situation führen, daß der Weinkenner dem Bürger gegenüber wie in einer anderen Welt lebt, die dem Normaltrinker völlig verborgen blieb und bleibt. Der Weinkenner hat seine betreffenden Sinne "im Zaum", er "besitzt sie" gewissermaßen, und ist damit frei im Verhalten den Sinnesdaten gegenüber.

Damit ist noch ein weiterer Gedanke angedeutet, nämlich der, daß richtiges Wahrnehmen nicht einfach schon "da" ist, sondern in der Auseinandersetzung mit der Welt (vor allem vom jungen Menschen) gelernt und ständig neu errungen und bewahrt werden muß. Gleichzeitig wird die Bedeutung von "Moralgeboten" klar, die natürlich auf lange Frist nicht reichen, die aber dem, der diese Wahrnehmung noch nicht gelernt hat, oder zeitweise in Gefahr ist sie zu verwischen (jeder Mensch ist "amplitudenhaft", er schwankt immer im Selbstsein), unerläßliche Mahnung und Erinnerung an die richtige Richtung darstellt. Eine soziale Gruppe MUSZ also auch "nur-gesetzliche Verpflichtungen", trockene "Ge- und Verbote" haben, die nicht immer und nicht immer jedem ihrer Mitglieder einsichtig und wahrnehmbar sind.


Morgen Teil 2)




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