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Mittwoch, 11. Mai 2022

Die Mahlzeit als humanisierender Ritus

Die sozialisierende, also zu einer Gesellschaft und vor allem (in einer Ordnung stehenden; nur dann ist es ja eine solche) Gemeinschaft formierende Kraft einer Mahlzeit ist so groß, schreibt Georg Simmel, daß es überall und zu allen Zeiten Regelungen gibt und gab, wer und warum AUSZUSCHLIESZEN ist. Mit wem also KEINE Tischgemeinschaft anzubieten, wessen Anwesenheit beim gemeinsamen Essen und Trinken ZU VERMEIDEN ist. 

Wie sehr eine Mahlzeit Gemeinschaft bildet zeigt sich daran, daß die wichtigsten Mahlzeiten immer die Opfermahlzeiten sind. Also der gemeinsame Verzehr einer an sich dem Gotte dargebrachten, und nun MIT IHM GEMEINSAM EINGENOMMENE Speise. Wo jeder (ausgedrückt im runen=vollkommenen, definitiv machenden Teller) eine ihm zugemessene, aber dann auch nur ihm gehörige Portion erhält, die seinen Platz in der Weltordnung ausdrückt. 

So stark ist dieses Bedürfnis der Festigung ALS SELBST in der Welt, die nur durch hochgradigen Formalismus geschehen kann, daß sogar Geschirr und Besteck einheitlich (und für einen Anlaß, nicht für die teilnehmenden Personen gewählt) für den Tisch sein muß, und etwa für jeden unterschiedliche, zufällige Teller und Eßwerkzeuge als störend und defiziös empfunden werden als wäre es dann gar keine "Mahlzeit" im eigentlichen Sinn. 

Die allen gleichen Eßwerkzeuge wiederum heben jeden Einzelnen vom bloß egoistischen "Freßvorgang" ab, und schaffen so die Möglichkeit, alle Vorgänge am Tisch zu Symbolen zu machen, die Persönlichkeitsmerkmale ausdrücken und damit (allen übrigen gegenüber) festigen. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Mahlzeit als "minderwertig" (primitiv, entwürdigend, etc. etc.) empfunden: Wo der Mensch nicht als soziales, kulturelles Wesen angesprochen wird - und er wird das durch den Ritus, durch die Liturgie, in die Lebensvorgänge gepackt werden - wird ihm die Menschenwürde genommen. 

Es ist alles andere als zufällig, daß die höchsten Vorstellungen der Erfüllung des Daseinssinn überall mit Mahlzeiten verbunden sind. Sei es im Himmlischen Gastmahl, von der das Evangelium bzw. Jesus so auffälig oft spricht, weil er es in seinen Riten ("... holt dich der Gastgeber unt bittet dich, sichneben ihn zu setzen ...", oder das Gleichnis von den Jungfrauen, bei dem es gleichermaßen um eine Teilnahme am Hochzeitsmahl geht, usw. usf.) als Metapher für den Heilsvorgang selbst hervorstreicht, oder man denke an die Vorstellugn der heidnischen Germanen, sie kämen im Tode nach einem gottgefälligen Leben an die Tafel Wodans und der Götter, wo sie grenzenlos tafeln würden. Immer sind Eßvorgänge in ein mehr oder weniger differenziertes und ausgestaltetes Eßrituale eingebunden.

Genau so drückt sich Identität und sozialer Stand in der Verwendung von symbolisch eingesetzter Gegenstände aus, wie sie bei Tisch verwendet werden. Das ist nicht nur auf der ganzen Welt gleich, sondern in anderen Kulturen (man denke an die Inder) noch bei weitem differenzierter ausgebaut als in unserer Kultur. 

Immer gilt, daß die Mahlzeiten auf ganz besondere Weise konzentriert die sozialen Strukturen wiedergeben. Sodaß gilt, daß je differenzierter die Tischsitten sind, auch die Kultur ausgeformter, reichhaltiger, "höherstehender" ist, Und zwar im Maß, als das bloß subjektive, egoistische Moment im Eßvorgang überwunden und zugunsten einer Symbolisierung der Handlungen bei der Mahlzeit verschwinden. Je ausgeprägter dies geschieht, desto stärker ist auch die Identität der "Essenden". 

Kaum etwas vermag deshalb auch eine Gesellschaft als Ganzes zu heben, wenn es DURCH MAHLZEITEN NACH OBEN gezogen wird. Eine Einladung zum Festbanket mit dem König läßt jeden, der nicht königlichen Standes ist, an einer Volgestalt teilnehmen, von der er anschließend mit Sicherheit so manches in seine Welt hereinholenm, diese also höher formen wird. Und DAMIT, mit der Mahlzeit (bei sich zu Hause, sagen wir) auch die Gemeinschaften, in denen er in seinem (einfacheren) Leben steht, nachhaltig veredelt. Wir haben ja schon davon gesprochen, daß die Hauptaufgabe des Königs darin besteht, sein Volk "zu heben", mit dem Fernziel, alle Bürger zu Königen zu machen. Dies geschieht kaum wo so intensiv wie durch Mahlzeiten.

Während umgekehrt jeder weiß, daß durch "angemaßte" Tischsitten, durch Riten, die nicht dem eigenen Stand entsprechen, also durch nachgeäffte Essensrituale der Einuzelne oder eine Tischgesellschaft allgemein erkennbar lächerlich machen oder blamieren. Pikiertes Verhalten macht keine höhere, differenziertere Kultur, sondern simuliert diese nur, und bechränkt sie auf boße Verhaltensformeln bei Tisch. Ein Beispiel für das hier Gemeinte ist der "affektiert weggespreizte kleine Finger beim Halten der Kaffeetasse." Hier ist im 19. Jhd. durch einen mißverstandenen "Knigge" viel Unsinn geschehen.

Fehlt diese Ordnung, hat das Zusammensein bei Tisch keinen symbolischen Sinn, fehlt dem Essen gewissermaßen die Seele, und sie kann der Widrigkeit (die jede zwanghafte, unfreie, ungesetzte, nur der Notwendigkeit geschuldete Tätigkeit, nicht nur das Essen, hat) eines rein physische, technischen Eßvorgangs keine Deckung mehr bieten. Den gleichen Sinn erfüllen die gemeinsamen Tischsitten, wie sie üerall in Gesellschaften vorzufinden sind, und streng mit Bedeutugnen verknüpft sind. "Man!" schneuzt sich nicht insTischtuch, und man nimmt die Gabel sound das Messer so. 

Auch hiedurch wird das bloß Animalische des Eßvorgangs überwunden, und das Essen auf eine geistige Ebene gehoben. Weshalb auch jede Mahlzeit ihre Kategorisierung hat. Es gibt das Festessen, das Ostermahl, den normalen Mittagstisch, den Sonntagsbraten, die Zehrung (Totenmahl), oder das Hochzeitsmenü.Und sie alle sind mit einem bestimmten Verhaltensrahmen umbaut, der die Versammlung gemeinsam Essender zu einem sozialen, das heißt mit Bedeutung aufgeladenen Gebilde macht.
Eine soziale Gefüge, das die gemeinsame Mahlzeit verliert, löst sich unweigerlich auf. Nicht nur das, geht auch das Individuum seiner Identität verlustig. 
Die Folgen einer gesellschaftlichen Organisiertheit, die fast keine gemeinsamen Mahlzeiten innerhalb von sozialen Gebilden (man denke an die Familie) mehr kennt, sind gar nicht zu überschätzen, so gravierend sind sie.
Die Frau also vom Herd weg und an die Kassa der Supermärkte zu stecken ist einem Erdbeben zu vergleichen, das stark genug ist, alleine schon das soziaile Fundament einer Gesellschaft sowie ihren Zusammenhalt zu zerrütten. 
Damit ist auch klar, daß der bloß egoistisch gedachte "Zweck" der Sättigung keineswegs der Hauptzweck einer Mahlzeit, sondern deren Zweit- und Nebeneffekt ist. Denn jede Mahlzeit ist in einen mehr oder weniger (einem Anlaß gemäß) strengen Ritual überbaut, das die Überwindung des bloßen und als primitiv angesehenen Stillens von Hunger und Durst bedeutet. Und das Ereignis einer gemeinsamen Mahlzeit zum entscheidenden Element sozialer Gestaltung wird. 

Das zeigt sich am deutlichsten, wenn der Mensch alleine ißt, was fast immer einem "Müssen" entspringt, und keinem freiwilligen Wollen. Und daß es beim bloßen "am selben Tisch sitzen" nicht liegt, wie jeder weiß, der z. B. in einer Kantine ooder in Gasthäusern gegessen hat, wo etwa nur ein festes Menü ausgegeben wird, das jeder packt und egal wohin trägt, um es dann "nur für sich" zu verzehren. Wo dies oft geschieht, wo häufig auf jede "Kult"ivierung des Essens in einem gemeinsamen Mahl verzichtet wird, verflacht auch die Identität als Bestimmung des Ortes, an dem man in der Welt steht. Dann kann sehr leicht eine Art "Vergemeinung" (die ausdrücklich keine EINHEIT ist) stattfinden, die den Einzelnen in einer (zufälligen) Menge untergehen läßt.

Dabei heißt Differenzierung als das Soziale stiftende Moment nicht Exaltiertheit und Außergewöhnlichkeit, sondern im Gegenteil ALS Symbolisches, Geistiges die Vermeidung der Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Materialien und Instrumente bei der Mahlzeit selbst. Weshalb Speiseräume und deren Ausstattung seit je dezent und unauffällig zu sein hatte. Auch gilt der Grundsatz, daß die Strenge der Etikette in direktem Verhältnis zur Macht stehen muß, die es zu bändigen, also von der Versuchugn oder Gewohnheit zum Individuellen fernzuhalten gilt. 

Simmel schreibt sogar, daß die Umleitung von Verhalten in Riten besonders dort besonders ausgeprgt ist, wo der zu umkleidende Vorgang besonders "primitiv", also "Tierischen gleich" ist - wie beim Essen. Denn es ist der Geist, der ihn von der untermenschlichen Welt unterscheidet, nicht der bloß körperliche Lebensvorgang. Denn es ist nicht der physiologische Prozeß, der uns zum Menschen macht. Da utnerscheide wir uns nur wenig vom Ochsen, dem Hamster oder dem Stummelkater. Sondern es ist der Geist, der in jeden noch so niederen Bereich eingreifen will, um ihn ins Menschliche durch Gestaltung zu erhöhen.