Es war und ist von größter Spannung, die Entwicklungen im ehemaligen Ostblock (Europas) zu verfolgen. Denn hier finden wir im Grunde einer Entwicklung vorgegriffen, die auf den Rest Europas noch zukommt - nur wird er dort weit schmerzhafter und, wie ich behaupte, bei weitem nicht so unblutig verlaufen, wie in Rußland, als Beispiel. Nachdem dort ein System zerfallen ist, das Land am Rande des Chaos stand (mit einem besoffenen Jelzin als Symbolfigur), hatte es entschlossene Männer gefunden - allen voran Vladimir Putin - die es mit klarem Kopf und fester Hand in eine neue Gesellschaft umbauen und bereits umgebaut haben.
Im
Standard findet sich ein Artikel einer Rußlandexpertin, die auch in Moskau lebt. Und er ist lesenswert. Denn sie schreibt - nüchtern, wie man es von Rußlanderfahrenen und erst gar Russen gewöhnt ist - daß Rußland einen vom Westen sehr verschiedenen Weg gegangen ist. Der Staat läßt seinen Bürgern weitgehend völlig freie Hand. Sodaß sich die Gesellschaft - nach dem Kommunismus in einem Strukturchaos - neu formiert, neu ordnet. Damit sind zwar auch manche unschöne Seiten verbunden, aber allmählich bilden sich sogar - aus privaten Initiativen! - Sozialhilfestrukturen heraus.
Das sind wir nicht gewöhnt, da steigt uns gelernten Sozialstaatsembrionen noch die nackte Angst hoch ... ja geht denn das? Es geht.
Die russische Gesellschaft bildet sich schlichtweg zurück, und neu: der Staat zieht sich mehr und mehr aus allem zurück, hat begriffen, was sozialistische Systeme wie hierzulande noch lange nicht begriffen haben: Er reglementiert nicht mehr das Leben der Menschen, sondern er übernimmt Aufgaben, die dem Ganzen dienen, ausschließlich. Außenpolitik, "große" Politik, Herrschaftspolitik, Repräsentation des Ganzen also. So kann, so muß man es sehen. Noch jammert der Standard, und untergründig spürt man den Versuch, diesen Rückzug auf eigentliche Staatskompetenzen als "Machtrausch" und "Gleichgültigkeit" zu verkaufen. Aber es ist eine Gesundung! Denn soweit es aus Berichten erschließbar ist, soweit man selber beobachten kann, vollzieht sich in Rußland nichts als ein Neuaufbau auf der Grundlage dessen was nach siebzig Jahren Sozialismus noch blieb: der Natur der Menschen. In aller Gefährdetheit und in aller Brüchigkeit und in aller Bedenklichkeit, gewiß, aber es bleibt eben immer noch die Natur, und das ist unsere wirklich Hoffnung: als Kraft, die auch all den Irrsinn hierzulande eines Tages aus dem Sattel heben wird. Ja, zunehmend hat die Politik hierzulande keinen anderen Charakter mehr als den, in Panik zu verfallen, weil aas Nichts, das ihr Inhalt ist, immer dramatischer wird, angesichts des Seins, das in der Niederung zum großen Gebirge, noch als Schatten, anwächst.
Eine liebe Bekannte hat mir unlängst aus Ostia antica geschrieben: Was wird wohl von unserer Kultur einmal überbleiben? Ja, was wird überbleiben. Vermutlich haben wir in den letzten 200 Jahren den mehr oder weniger antiken Ruinen nichts mehr hinzugefügt. Es wird nichts bleiben, dessen bin ich sicher, und es steht Chaos vor der Tür. Aber Rußland war mir da immer ein Vorreiter: denn was dort geschah und geschieht, steht letztlich auch dem Rest Europas bevor.
***