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Donnerstag, 23. Mai 2019

Raum als göttliche Ordnung (2)

Teil 2)




Die Mauern der Städte waren deshalb auch mehr als bloße Verteidigungswerke. Sie waren die Grenze zwischen Kultur und Chaos, zwischen Leben und Unordnung, zwischen Gut und Böse, Gott und Satan. Die Welt außerhalb der Mauern war Tohuwabohu, Chaos, Unordnung, Feindesland, nicht in jene Gemeinschaft integriert, die der eine Gemeinschaft kennzeichnende Ritenfundus erst verläßlich macht. Alles innerhalb einer Stadt unterlag bereits der göttlichen Geordnetheit, war über den Altar, den Knoten- und Quellpunkt menschlichen, weltlichen Raumes, in Gott selbst hineingeborgen. Und der Mitbürger, der ebenfalls innerhalb der Mauern lebte, war ohngefragt Bruder und Nächster. Bei allen anderen war es nicht sicher und sogar eher unwahrscheinlich.³

Ganz anders in der Stadt also wie dem gegenüber, der vor den Mauern stand. Der nicht nur bei den Römern nicht einmal den Anspruch auf Menschenwürde hatte, weil er Barbaros, Wilder, Plapperer, Wirrkopf, Wilder, aber kein vollwertiger Mensch (also Kulturwesen) war. Dem deshalb auch keine Rechte zustanden, der in manchen Epochen und an manchen Orten sogar vogelfrei war und jederzeit bereit sein mußte, sich gegen Feinde zu wehren.²

Die Stadt hingegen, eine Erweiterung der Kirchen, die ja die vollkommene Welt und ihre Ordnung darstellten, nicht mehr, deshalb in deren Vorhalle, gewissermaßen, war diese dem göttlichen Plan folgende Unterwerfung der Welt. Sie war mit hineingenommen in das Himmlische Jerusalem, die Kirche, als Schöpfung, die zum Lobpreis Gottes erhoben wurde.  

Bemerkenswert ist, daß jede Kultur ab dem Moment ihren Zerfall anzeigt, in dem NICHT mehr jeder weiß, wo er hingehört, nicht mehr an diesem Platz aufwächst und sich so einzugliedern vermag und als Teil der Welt erfährt, der gebraucht wird. Wenn die sozialen Gebilde immer zufälliger und ungeordneter werden, und sich ihre Institutionalisierungen auflösen. Dieses Zueinander wiederum war durch Riten, Gebräuche, Grenzen und Tabus geregelt, die auf das Zentrum - Gott, Kirche, Ordnungsquelle - ausgerichtet waren. Deren Zueinander streng in Symbolik und Körpersprache formalisiert sein muß. 

Mary Douglas zeigt in "Ritual, Tabu und Körpersymbolik" sogar überzeugend, daß eine Kommunikation OHNE solche Rituale usw. gar nicht möglich ist.* Löst sich deshalb das Rituelle des Zueinander der Menschen auf, löst sich auch eine Gesellschaft auf und eine Kultur hört auf, zu bestehen, weil sich auch die Identitäten ihrer Menschen aufgelöst haben. Ohne Ort, ohne Platz in der Ordnung kann kein Mensch aber leben und bestehen. Nur aus Gott kann Segen erwachsen. Und nur aus einem Kampf um so einen Ort kann man die heutige Zeit verstehen.

Niemand bestreitet deshalb, daß seit dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, als überall die bisherigen Stadtgrenzen und Mauerringe zu eng wurden - noch im 15. Jahrhundert lebten ja nur etwa drei Prozent der Bevölkerung unserer Länder in Städten, welcher Anteil bis ins 18. Jahrhundert auf zehn und mehr Prozent stieg, ehe er im 19. Jahrhundert endgültig emporschnellte -  die Städte mehr und mehr in gewissen Wildwuchs übergingen, sowohl vor den Mauern (wo es kein Ordnungsgesetz gab), als auch innerhalb (wo Ordnungsgesetzte verboten oder im reinen Nutzendenken übertreten wurden). Was (etwa im Fall Salzburg) in einigen Fällen im 17. und 18. Jahrhundert noch einmal dem aber bereits konstruierten Ordnungsdenken der Renaissance weichen mußte, wo man die alte, antike Ordnung (in neuem Gewand) wiederherzustellen suchte.

In den meisten Fällen wich der nach dem Mittelalter entstandene Wildwuchs noch einmal einer geplanten Ordnung, zumindest teilweise, als man im 18. und 19. Jahrhundert die aus militärischen Gründen überflüssig gewordenen Festungsanlagen schliff und mit dem nunmehr offenen Glacis (dem Freiraum zu den Vorstädten hin) vielen Städten gleich neben ihrem bisherigen Zentrum plötzlich große Flächen zur Disposition standen. Paris verdankt seine heutige Charakteristik ebenso dieser Tatsache wie Wien mit seiner Ringstraße, in der sich die Städte gewissermaßen neu erfanden, indem sie noch einmal die Ausrichtung auf ein Zentrum - diesmal bereits die weltlichen Herrscher - versuchten. Die heutige Wiener Ringstraße ist wie eine große U-förmige Zange angelegt, die an der Donau mit zwei Kasernen (die Stubenringkaserne gibt es nicht mehr, nur noch die Roßauer Kaserne) ansetzt, und in einer Art Schelle vom (letztlich aber, Zeichen der Kraftlosigkeit und des Zerfalls der Monarchie, schon nur noch zur Hälfte gebauten) Kaiserforum (vulgo Äußere Hofburg) gehalten wird.**

Bis dieses Raumbewußtsein, dem wir unsere Städte verdanken, allmählich völlig der Zufälligkeit wich. Heutige Städte, heutige Großstädte, heute gebaute Stadtviertel und Häuserensembles haben keine Ordnung mehr, weil sie kein Zentrum mehr haben, auf das alles ausgerichtet ist. Damit könnten sie überall stehen. Sie geben keine Heimat und damit keine Identität mehr. Sie sind nur noch "da", und man wechselt gefühlslos von einer zur anderen. Wo man dennoch so etwas wie Heimat findet, geschieht das bestenfalls wie zur Zeit der Völkerwanderung, wo sich die neu angekommenen Völker in den vorhandenen Ruinen niederließen und die Menschen es sich so gut wie möglich einrichteten. Bis die Kirche kam, und nach und nach wieder ein Zentrum zur Ausrichtung, und damit Identität und Ordnung bot. Übrigens - nach antikem Vorbild.

Wie wenig technisch, ja wie wenig "ästhetizistisch", wie sehr mythologisch-religiös die Anlage der nun gebauten Städte aber war, wurde spätestens ab dem Moment klar, als es weltweit in den 1920er bis 1950er Jahren Versuche gab, völlig neu nach Nutzen und technischem Ablauf konzipierte Städte auf dem Reißbrett zu entwerfen und umzusetzen. Neben Brasilia (Brasilien) und Chandigarh (Indien), beides Großstädte, die eine von Oscar Niemeyer, die andere von LeCorbusier als Ganzes auf die grüne Wiese geplant und umgesetzt wurden, sind es Stadtviertel wie das Gropius-Viertel in Berlin und jede Menge weiterer Stadtviertel weltweit, die angeblich technisch perfekt dem Bedürfnis der Menschen entsprachen, aber heute nicht mehr weit von der "Slum-Klasse" liegen.

Im Fall Berlin zeigt es sich noch drastischer, weil diese "Stadt" erst recht spät als bloße Zusammenlegung von Fischerdörfern im Geist der Aufklärung "entstand", also nie einen Plan, sondern eben diese Zufälligkeit des Zentrumslosen und damit keine Ordnung hat. Man sieht es heute deutlich. Vom Zustand der Peripherien in den meisten Städten wollen wir da gar nicht anfangen - ein Nebeneinander bezugsloser Autismuszeugen, mit identitätslosen, schutzlosen Konsumenten, und weltblinden Ablaufsklaven (Arbeiter, Angestellte) ...

In einer nicht nach göttlichem Plan angelegten Welt verkommt auch der Mensch. Nicht Nutzen bestimmt den Menschen, sondern Beziehung und Schönheit, Ritus und Gestalt. Denn nicht nur ist er selbst nach einem göttlichen Plan, nach einer Geometrie geordnet, sondern die ganze Welt, ja der gesamte Kosmos, vom Größten bis zum Kleinsten, ist auf denselben (archetypischen) Ordnungsprinzipien und Größenverhältnissen weil Beziehungen (nur auf je anderen Ebenen) aufgebaut. So ist die Schöpfung ein einziger Klangkörper, in dem in jedem Teil derselbe Rhythmus, dasselbe, alles durchdringende, alles beherrschende, alles ordnende Loblied erklingt. Um wie viel mehr muß das dann auch in den Städten sein, die den Lebensraum des Menschen bedeuten?




 
Morgen Teil 3) Wie schon  häufig: Die zu Exkursen ausgeuferten Anmerkungen