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Samstag, 12. November 2016

Wenn die eigene Welt zu einer fernen Welt wird

Eine der seltsamsen Erfahrungen des Älterwerdens liegt darin, daß einem die vertraute Mitwelt nach und nach wegstirbt. Auf einmal wird alles zur Episode einer fernen Vergangenheit, zur bloßen Erinnerung. Es geht gar nciht darum,ob und wie weit die Musik von + Leonard Cohen (RIP) gut oder nicht gut war. Es geht um die Zeiterscheinungen, und jedes vergangene Geschehen, die erstes Liebe, der Konflikt mit der Mutter, die Diskussionen mit den Lehrern, die Jugendfreunde und Jugendlieben, das Mädchen mit den Brillen, die Weißblonde mit dem zarten Gesicht, die Abende im verregneten Park und die Sehnsüchte und Träume, die vielen Bücher, die man verzweifelt wälzte um Tritt zu finden, der Klang der Vinyl-Schallplatten dabei, über den Dual-Riemen-Plattenspieler mit Phillips-Tonabnehmer 2  mal 6 Watt gehört, das Zimmer, die Düfte, die Lüfte, die Kälte, die Wärme, der Sommer, der Herbst, der Winter, der Frühling, der Mai, der Juli ... sie alle sind in ein Insgesamt von Eindrücken gebettet. Aus denen sich alles nach und nach herauslöst und zu einer fernen Welt wird. 

Plötzlich merkt man erschrocken und ehrlich, daß man am liebsten immer Jugend geblieben wäre, noch heute kämpfen muß, die Mühe der Weltwerdung auf sich zu nehmen, Tag für Tag, Morgen für Morgen. Und man kauft eine Biographie von John Adams, weil im Vorwort das man anliest steht, daß sie deutlich mache, wie sehr jedes Leben ein einziges Bruchgebäude ist - das auf seltsame Weise doch ein Ganzes ergibt, ja eine historische Leistung.

Waren sie nicht alle Jugend? Waren sie wirklich genauso nur Jugend, zu deren eigener Überraschung Faktum um Faktum wie zufällig gesetzt wurde, von dem spätere und gutmeinende, liebende Generationen sagen werden, es wäre ein ganzes Leben gewesen? Von denen eines ums andere stirbt. Fast 20 % der Schulkollegen der Abschlußklasse bereits tot. Jüngst wieder einer. Und etwas von einem selbst geht mit ihnen. Immer ein Teil und noch ein Teil und noch einer, bis alles weg ist. Während man selbst noch so gern Jugend wäre, weinen möchte in schwachen, wie erst in sehr schwachen Stunden der Sehnsucht nach diesem Damals, neigt sich der Leib eines Lebens dem Ende zu, bis alles nur noch Erinnerung ist. Und wo doch das Ende mit dem Anfang so merkwürdig in eins kommt.

Der November ist so kalt heuer. So hatte man ihn auch damals erlebt. Nicht einfach nur die Erinnerung schafft Gegenwart - auch die Gegenwart ruft das Bleibende, und nur das gibt Erinnerung. Nur in der Reife kann man deshalb erinnern. Wer nicht von sich selbst in all diesem Zufälligen, Vereinzelten, nur Faktischen weggewachsen ist, es durchdrungen hat, der erinnert sich nicht. 

Nur wer der Jugendwelt wieder vertraut, alle Verletzungen und Verflechtungen überwindet, die das Vergangene nie vergangen sein ließen, wird sich deshalb auch wieder an sie erinnern. Nur wer die Väter liebt - denn Welt ist immer Vater - wird sich auch an die Kindheit erinnern. Und sogar bis ganz an ihren Anfang. Der Losgelöste, der in den Tod Gleitende, erinnert sich deshalb an alles, davon erzählen die Nahtoderlebnisse. So kann man sie hernehmen, wie Dinge aus der Kiste, und mit ihnen spielen, sie in Händen drehen, sie hierhin oder dorthin setzen. Und das Erleben wird neu. Wer in dieser Weise zu erinnern vermag, der sammelt Tag für Tag Schätze und Reichtümer.







Hören Sie im Anschluß vielleicht Brigitte Ederers Chopin "Nocturnes".
Nicht zufällig hier herein gestellt. Vielleicht hören Sie auch, was der VdZ hörte, als er sich nach Cohen ans Zubereiten des freitäglichen Schwammerl-Gulyas machte. Zumindest im Übergang.








*11112016*