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Samstag, 24. August 2019

Die Unantastbarkeit einer Heiligen Welt

Was Alexander Dugin in diesem Interview aus 2017 sagt, ist so gescheit, daß es (widerwillig, aber denn doch) hier nicht fehlen darf. Denn es fügt sich in so manche der Gedanken, die dieses Blog ebenfalls kennzeichnend. Was sagt Dugin hier?

Rußland wird vom Westen völlig falsch eingeschätzt. Denn die russische Tradition, also die russische Volksseele, ist zutiefst von einem Massencharakter geprägt. Das deckt sich nicht mit dem westlichen Individualismus. Auch wenn die oberflächlichen, in den Medien kolportierten Ideen und Dispute liberaler sind, als vielleicht sogar im Westen (und auch Putin ist zutiefst liberal), handelt es sich hier um eine Scheinwirklichkeit der Worte und der modernen Informationswelt. Im tiefsten Inneren hat und sucht der Russe eine Wertestruktur, die er zwar kaum zu sagen wagt, die sich aber mit den Ansprüchen des liberalistischen Westens nicht decken. Das ist eine soziologische Tatsache, keine Verschwörungstheorie.

Und diese tief innerliche Wertestruktur ist es auch, die die eigentliche Wurzel des russischen Menschen ist. Es ist dieser Kollektivismus, diese kollektive Identität (die vor der individuellen Identität steht), der die innere Grammatik aller Lebensäußerungen steht. Insofern steht Putin vor einem Dilemma, denn er muß auf eine Weise "zwei Putins" sein. Der eine, der persönliche Putin ist Liberaler. Der andere weiß, was die Russen sind und brauchen, und dem versucht er aus pragmatischen Gründen zu entsprechen.

Die Moderne begeht einen Etikettenschwindel, oder sie weiß es nicht besser, wenn sie meint, daß sich das Bewußtsein der Menschen durch "Information" (Internet, social media etc.) "ändern" beziehungsweise bestimmen ließe. Das ist ein Irrtum, denn man versteht nicht, was "Idee" wirklich ist. Die sich besser mit "Gott" und "Engel" beschreiben ließe als mit dem, was dafür gehalten wird: Gedanken, die wir halt so im Kopf haben. Das sind keine Ideen, das sind lediglich Oberflächen der Informationsflüsse. Ideen sind Wesenheiten (also nicht, wie der Nominalismus seit 500 Jahren vertritt, lediglich Gedanken im Kopf), die aus sich heraus einen Antrieb haben, Realität (Welt) zu werden. Sie sind deshalb mehr als Kräfte zu verstehen, denn als Gedanken. 

Wozu aber dann diese Informationswelt, wozu Sender wie Russia Today, die sich zum Ziel gesetzt haben, mehr Transparenz zu bringen, um so den Menschen zu ermöglichen, eine aktivere Rolle in der Gestaltung ihres eigenen Lebens zu spielen? Dugin lenkt ein, daß auch er die Demokratie vertritt. Aber er ist nicht der Meinung, daß das eine liberale Demokratie sein müsse, wie sie der Westen so ausschließlich vertritt, daß er sich gar nichts anderes vorstellen zu können scheint. Er erwähnt Fukujama, der einmal gemeint hat, daß das aktuelle Verständnis der liberalen Demokratie grotesk ist, weil es die Macht der Minderheiten meint, nicht die der Mehrheit. 

Ja, wir haben es sogar mit der Situation zu tun, daß die Macht der Minderheiten so stark ist, daß sie sich GEGEN die Mehrheit durchsetzt. Und zwar weil die Mehrheit im Innersten es nicht mehr wagt, hierarchische Gesellschaften zu bilden. Damit richtet sich das liberale Verständnis der Demokratie gegen das eigentliche, ursprüngliche Verständnis von Demokratie! 

Er meint deshalb, daß im Kreml zum Beispiel nur Entscheidungen mit globalem Aspekt getroffen werden sollen, etwa wenn es um Atomwaffen oder diplomatische Beziehungen zu anderen Ländern oder um strategische Aspekte der Entwicklung des Landes geht. Dafür muß jede andere Entscheidung auf einer möglichst niedrigen Ebene getroffen werden. Und dort nicht auf der Ebene des Liberalismus, also des Individuums, sondern sie sollten auf dem Konzept organischer Kommunitäten, Einheiten aufbauen. 

Der Unterschied zum Liberalismus ist, daß dieser glaubt, daß Gesellschaften, Einheiten, organische Kommunitäten NACH dem Individuellen kämen, also eine Summe wären. Das ist nicht richtig, das ist eine künstliche Schöpfung. Es ist vielmehr das Ganze, die Gesellschaft, die Gemeinschaft, die das Individuum ausmacht und ihm sogar vorausgeht. Sie ist dann dessen Ort (der Individualität), nicht umgekehrt. Die Gemeinschaft ist die Geburtsstätte der Kultur und deren Werte, sie enthält die gesamten Kontexte der einzelnen individuellen Inhalte. 

Der westliche Individualismus ist ein falsches, ja gefährliches Konzept. Denn das Individuum von der kollektiven Identität zu befreien, ist der direkte Weg zur künstlichen Intelligenz, zum Cyberraum, und zur De-Humanisierung des Menschen. Auch wenn Liberale das glatt bestreiten würden - es ist mehr als bloßer willkürlicher Entscheid, den ein Mensch treffen kann. Es ist die ihm zugrundeliegende Grammatik, die ihn bestimmt, ob er das weiß und will oder nicht.

Wenn man von der Zukunft eines Volkes spricht, dann darf man nicht übersehen, daß wir ohne jeden Inhalt und ohne Sinn wären, wenn wir die Geschichte verdrängen, vergessen oder vernachlässigen würden. Geschichte ist nämlich weit mehr als "Vergangenheit", man darf sie nicht darauf einschränken. Ohne Geschichte hätte die Gegenwart keinen Sinn. Jeder momentane Augenblick ist geladen mit Bedeutung und Sinn, der uns vorangegangen ist und der uns heute prägt, der uns jene Inhalte vorgibt, die unser Leben eigentlich erst ausmachen. Deshalb muß Geschichtsbetrachtung auch kultiviert werden und Teil einer Kultur sein. Ein Land muß sich deshalb als historisch begreifen, mit Verantwortungen, mit einem Weg in die Zukunft, der alles mitführt was bisher war. Die Geschichte enthält den kulturellen Code einer Gegenwart! Also muß sie so wahrhaftig wie möglich erinnert werden.

Besonders scharf geht Dugin deshalb mit der Medienlandschaft um. Er meint, daß die historischen Debatten heute oberflächlich und irrelevant geführt werden, daß sie diese historische Identität des Volkes zerstören.  

Aber sind die Russen wirklich so traditionell, meint die Reporterin? Es ist doch eine Tatsache, daß es in Rußland enorm hohe Scheidungsraten und hohe Abtreibungszahlen gibt. Außerdem sind die russischen Frauen ziemlich "emanzipiert" und den Männern oft in der Liberalität voraus. Die bekanntermaßen dann alles tun, um nicht Alimente zahlen zu müssen, sich also nicht durch viel Verantwortungsbewußtsein auszeichnen. Die Statistik spricht nicht gerade dafür, daß sich die Russen den traditionellen Werten sehr verbunden fühlen? 

Traditionsbewußtsein, sagt Dugin, reicht viel tiefer als Scheidung oder Abtreibung. Sie ist nicht einfach nur eine "praktizierte, übernommene Gewohnheit", ein praktizierter Brauch. Traditionsbewußtsein ist ein Wille zum Heiligen. Ein Wille also, Dinge heilig zu halten, weil die Welt auf eine Art sakral ist. Es ist die Realität von Geist in unserem Leben. Geist gibt es dabei nicht nur als guten Geist, sondern auch als das Böse. Aber alles zusammen ist Teil eines lebendigen geistigen Ganzen, das als Ganzes auch respektiert werden muß. 

Was man gerne als traditionelle Werte bezeichnet - Familie, persönliche Beziehungen etc. - sind nur Teil dieses Geistes der Tradition, so wie die Kirche. So auch wie die Gewohnheiten, die Bräuche: Es ist dieser ganze "Gerichtshof der russischen Mentalität" gewissermaßen. Und dieses Ganze muß den Menschen heilig sein. Wenn man Dostojewski liest wird es deutlich: Diese Heiligkeit der russischen Kultur prägt jede einzelne Seite, sie ist einfach überall. Deshalb ändern sich traditionelle Werte einer Kultur auch nicht. Sie gründen nicht in der Realität, in der ein Volk historisch gerade lebt, sondern umgekehrt: Seine Realität wurzelt in der Heiligkeit seiner Kultur. 

Die Welt, die die Russen akzeptieren können, ist diese Heilige Welt. Das Übel des Kommunismus war, diese Heiligkeit neu zu etablieren. Aber es war eine häretische Heiligkeit! Es war ein irriger, extremistischer, totalitärer Versuch, der sich abnormaler, schrecklicher Mittel bediente. um eine solche Heiligkeit aufzurichten. Es geht um die Heiligkeit des Seins! Und die ist in uns real vorhanden, und sie ist es als eine Art von Kollektivismus. 

Es ist ein Irrtum zu meinen, daß die russischen Menschen nach so langen Epochen des Darbens nun ein gewisses Anrecht auf Liberalismus und damit Materialismus hätten - die Russen hassen den Materialismus zutiefst, sagt Dugin.