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Donnerstag, 1. August 2019

Man könnte Vermutungen über andere Hintergründe anstellen

Es stimmt ganz einfach nicht und mutet nur seltsam an, ja läßt weitere Interpretationen zu, wenn Kardinal Schönborn den em. Papst Benedict XVI. kritisiert. Der in einem jüngst erschienenen Dokument auf die Zusammenhänge zwischen der Welle der "sexuellen Befreiung" und den Mißbrauchsfällen in der Katholischen Kirche hinweist, die er unter "68er" zusammenfaßt. Wo diese Welle in einem putschartigen Geschehen der Weltgesellschaft aufgezwungen wurde, die heute als Norm angesehen wird. 

Wer die Zahlen der Klasnic-Kommission (eine Untersuchungskommission, die die Katholische Kirche in Österreich eingerichtet hat, die vom ehemaligen Landeshauptmann der Steiermark Waltraud Klasnic geleitet wurde) hernimmt, sieht sofort, daß diese Zusammenhänge sich gerade aus ihren Zahlen ergeben! Ja, die Kommission weist noch 2012 klar auf die Tatsache hin, daß die Mißbrauchszahlen in den 1960ern und 1970ern stark gestiegen sind. 

Aber natürlich hat das Dilemma nicht 1968 begonnen, sondern hat eine längere Vorgeschichte. Die damit begann, daß maßgeblich unter dem Einfluß des dänisch-amerikanischen Psychologen und Neo-Freudianers Erik Erikson (Geburtsname Abrahamsen) eine neue Sichtweise des Menschen sowie der Rolle der Triebe (und damit der Sexualität) in Gesellschaft wie Kirche Einzug hielt. Plötzlich galt nur der Mensch als reif, der auch seine Triebe auslebte. Dahinter steht eine völlig andere Anthropologie. Die den Menschen nicht als geistbestimmt (alles definiert sich aus seiner höchsten Möglichkeit) ansah, sondern als evolutiv entstandenes Tier. Und jedes Tier lebt eben seine Triebe aus, dazu sind sie ja da. 

So ist der Mensch aber nicht. Er ist zu einer Freiheit berufen, die alles, was er tut, zuerst (!) unter eine Idee, einen geistigen Ort stellt, auf den er sich dann bezieht. Dieser Ort (mit seiner inneren Ordnung wie seinen Platz in der Gesamtheit der Ordnung der Schöpfung) erst macht die diesem Ort entsprechenden Betätigungen zu Taten, die ihn auch frei machen und sein Leben glücken lassen. Man muß sich ja nur die unzähligen gescheiterten Lebensentwürfe ansehen, die als Folge dieses Paradigmenwechsels über den Westen hereinbrachen. Wieviele gescheiterte Lebensentwürfe sind Resultat dieser Haltung, nur "spontan" den Antrieben folgen zu wollen! Sie ermöglichen das nicht, was ein Leben braucht, um zu glücken: Kontingenz. Durchhalten eines Planes. Ja, freies Denken, das NICHT von Antrieben getrieben und bestimmt ist.

Diese Freiheit, die die Hilfe der Gnade braucht, so wie alles, was der Mensch auf dem Weg zur Lebenserfüllung tun muß Gnade braucht, erschließt sich erst, wenn auf diesen Ort Bezug genommen wird, sich der Mensch darauf transzendiert. Also genau das Gegenteil macht, als die neue Anthropologie, die uns seit Jahrzehnten bestimmt, uns als natürlich vorlügt. (Auch Erikson/Abrahamsen war Ergebnis eines Seitensprungs seiner Mutter; das als rechtfertigendes Element seiner "Lehre" erklärt mehr als jedes akademische Geschwätz es vermag.)  

Sexualität ist nicht ein "natürlicher Antrieb" des Menschen, der außerhalb seiner geistigen Integrität zu sehen ist, sondern eine Tätigkeit, ein Antrieb, der ebenfalls in eine Ordnung und Führung durch den Geist des Menschen zu integrieren ist. Und nur innerhalb dieser Ordnung (und die heißt in diesem Fall Ehe, die heißt in diesem Fall auch Empfängnisoffenheit) seine Natur erfüllt. Sie zu einem Antrieb zu machen, der außerhalb dieser Ordnung einen Sinn ergäbe (man beachte, zu welchem unheilvollen Geschwafel das Reden über "Liebe" als Legitimierung geworden ist), ist ein schwerer Irrtum, der enorm viel Unheil anrichtet. 

Diese "Lehren" aber wurden mit den 1940er, 1950er Jahren ungemein populär. Die Statistik zeigt genau das an. Und zwar, weil sie damals massiv popularisiert wurden. Propaganda hat sie verbreitet, nicht ein "natürliches Streben" der Menschen. Man hat eine Kraft bewußt gestärkt, die die Ordnungen der Gesellschaft aufgelöst haben. Und dazu eignet sich Sexualität hervorragend. Ein Mensch, der sich diesen seinen Trieben ausliefert und ihnen blindlings folgt, verliert seine Freiheitsfähigkeit, und damit seine Vernunftfähigkeit. Er ist extrem leicht manipulierbar. Es gibt eigentlich gar kein effizienteres Mittel, eine Kultur aufzulösen, als seine Sexualmoral der Beliebigkeit zu unterstellen.

Die intensive Beschäftigung der Kirche - wie Schönborn es hier tatsächlich tut - als krankhaft zu bezeichnen, was doch nur eine richtige Reaktion auf diese ab den 1950ern/1960ern (wobei: schon vorher) aufplatzende Bombe der zunehmenden Liberalisierung der Sexualität, die noch dazu gezielt implementiert wurde, wir haben hier schon ausführlich darüber gehandelt, geschah, ist deshalb niederträchtig. Und daneben aufschlußreich. Denn ist nicht auch Schönborn ein Alt-68er? Die starke Betonung der Sexualität in der Morallehre der Kirche hat genau diesen Grund: Sie war eine Reaktion auf diese sexuelle "Befreiung" (als die sie verführerisch, aber völlig falsch, dargestellt wurde) als "Freiheit, jederzeit zu tun, was einem einfällt, wozu man sich bewegt fühlt. Es war die Gesellschaft, die krank war und immer kränker wurde! Und deshalb auch diese starke Betonung in den kirchlichen Lehrdokumenten!

Diese katholische Haltung wurde ab den 1950er Jahren zunehmend diffamiert und verleumdet. Und plakativ mit "Unterdrückung von Natur" gleichgesetzt. Obwohl des Menschen Natur eben anders ist! Daraus erwuchs dann so etwas wie eine "Pflicht", alles zu tun, was einem gerade in den Sinn kam. Und Kardinal Schönborn verrichtet genau dieses Geschäft. Seine Aussagen sind nur vor dem Hintergrund verstehbar, wenn man diesen Hintergrund als eben von Leuten wie Erikson und deren Irrtümern begreift. Die offenbar auch der Wiener Erzbischof vertritt. Und damit den Verdacht aushalten muß, daß er weder etwas gelernt hat, noch das wirkliche Elend der Menschen heute begreift. Das - eine Frucht einer irrigen Anthropologie - läßt sich in zahlreichen Äußerungen Schönborns übrigens seit Jahrzehnten spielend leicht nachweisen.

Das Dokument von em. Papst Benedict XVI. zu den Mißbrauchsfällen in der Katholischen Kirche ist mangelhaft, gewiß, aber es hätte um diese Mängel abzustellen eine weit umfangreichere wissenschaftliche Arbeit sein müssen. So hat Josef Ratzinger aber immerhin in einem recht gelungenen Entwurf doch die Richtung angezeigt, in die es geht, wenn man über Mißbräuche innerhalb der katholischen Kirche sprechen will. Die in eine destruktive, schwer irrige, anti-kulturelle Gesamtbewegung eingebettet sind, die nachdrücklicher zu gestalten die Kirche leider (und unter vielerlei Druck und Schwäche) verabsäumt hat. So daß sie selbst von dieser Revolutionswelle erfaßt und vielfach weggespült wurde. Denn diese irrige Auffassung über Sexualität ist heute vielfach sogar ... Lehrstandard an katholischen Universitäten und Einrichtungen, namentlich der Priesterausbildung. Auch in Wien. Um DAS einzuschränken ist erst tatsächlich das notwendig, was Schönborn an der Kirche vor den 1968ern kritisiert: Krankhafter Moralismus.