Dreimal, schreibt Solschenizyn im Archipel GULAG, für das er - sicher auch aus politischen Gründen im Kalten Krieg, denn heute ist Solschenizyn den Anti-Kommunisten von damals, also den Gutmenschen von heute, wohl eher peinlich - den Literaturnobelpreis erhielt, dreimal sind die russischen Soldaten im und nach dem Zweiten Weltkrieg verraten worden.
Einmal, weil man sie ohne ausreichende Ausrüstung und mit einer desaströsen Führung in den Krieg schickte, wo sie millionenfach sinnlos verbluteten oder zu Millionen in die Gefangenschaft gingen.
Zweimal, weil sich die Sowjetunion weigerte, das Kriegsgefangenenmemorandum von Genf zu unterschreiben. Welches die Regelung enthielt, daß im Kriegsfall Kriegsgefangene erstens von den Siegern ähnlich gut zu versorgen waren wie die eigenen Soldaten, zweitens mußte gestattet werden, daß Kriegsgefangene von der Heimat und von internationalen Hilfsorganisationen (wie dem Roten Kreuz) mit Hilfsgütern versorgt werden durften. Was in deutschen Kriegsgefangenenlagern unter inhaftierten Engländern und Franzosen manchmal zur grotesken Situation führte, daß diese die Versorgung durch deutsche Lagerhaltung verweigerte, weil sie sich aus Hilfsgütern besser versorgen konnten. Die UdSSR hatte das alles verweigert, weil sie verhindern wollte, daß Truppen vorzeitig den Kampf aufgaben, und das "Paradies" der Gefangenschaft dem Elend in den Schützengräben oder dem Tod fürs Vaterland vorzogen.
Zum dritten Mal wurden sie dann verraten, weil sie bei der Heimkehr nach Rußland praktisch ohne den Zug zu wechseln sofort in Straflager nach Sibirien weitergeschickt wurden. In dem letztlich jeder Ideologie eigenen System der Paranoia, wo jedes Kennenlernen eines "anderen", eines alternativen Lebens, schon gar eines Lebens mit "mehr Freiheit", zur substantiellen Bedrohung des notwendigen "treuen" Glaubens an das eigene Aufbauprojekt wird, war jeder, aber wirklich jeder, der mit dem Westen Kontakt bekommen hatte, zur Gefahr erklärt. Das traf auch für die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener zu, die im Zuge des Zusammenbruchs des Dritten Reiches aus deren Lagern befreit wurden. Meist sogar von den westlichen Alliierten! Die aber nun - eiderdautz! - dem Genossen Stalin, mit dem man (und dabei vor allem Roosevelt) sich's keineswegs verscherzen wollte, diese Millionen Soldaten kurzerhand geschlossen auslieferte. Und das obwohl man um die wahre Natur des Sowjetregimes wußte.
Erschütternd manche Berichte, in denen sich sowjetische Soldaten (oder ganze Völker, wie die Kosaken 1945 in ihrem Lager in Kärnten) vor der "Rückkehr in ihre Heimat" zur Wehr setzten.
Erschütternd, noch mehr tragisch aber auch die Freude und Ergebenheit so vieler russischer Soldaten, die trotz des Wissens um ihr künftiges Schicksal die Rückkehr in die Heimat wählten. So ist er, der russische Mensch, schreibt Solschenizyn, er zieht alles, auch den größten Schrecken vor, wenn er nur in der geliebten Heimat sein kann. Dort hat alles dann eben schicksalshaften, ja gottgewollten Charakter, den man vertrauensvoll hinnimmt. Aber kein Russe, der ein solcher ist, zieht die Entwurzelung vor, weil er sich irgendwelche scheinbaren Lebensvorteile verspricht. Was sind die wert ohne Heimat, ohne Teil des eigenen Volkes und seiner Kultur zu sein?
Kein schlimmeres Übel als die Ortslosigkeit! Kein größeres Elend als das Fehlen des Sinns, der sich erst aus der Zugehörigkeit zu einem Ort erschließt.