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Sonntag, 5. April 2020

Das Problem zu hoher Ausbildung von Staatsbürgern

Ein nächster Artikel von William M. Briggs, dem "Statistician to the stars", in der freien Übertragung durch den VdZ, mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Das Problem zu hoher Ausbildung von Staatsbürgern
von William M. Briggs, erstveröffentlicht am 14. Februar 2020

Leo K, einer unserer treuen Leser, übermittelte uns einen Link, der zu einer Arbeit von Lenore O'Boyle führt. “The Problem of an Excess of Educated Men in Western Europe, 1800 bis 1850 - Das Problem der Übersteigerung bei Ausgebildeten Bürgern in West Europa, 1800 bis 1850” Er tat dies in einem Kommentar zu unserem Artikel über überzogene Ausbildung.* Im Folgenden einige Auszüge aus dieser Arbeit. 
Der Zweck dieser Studie ist zu ermitteln, ob es tatsächlich so etwas wie eine Überproduktion von gut ausgebildeten Bürgern in England, Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekommen ist. Die Annahme, daß es diese Überproduktion gab, ist auf den ersten Blick sehr stimmig und wurde auch weithin angenommen. Aber es hat nur wenige Anstrengungen gegeben, diese Behauptung auch durch Fakten zu untermauern.
Ausgebildete Bürger werden hier so verstanden, daß sie folgende Kriterien erfüllen. (a) Zugehörige zu allen Ausbildungsberufen, gleichgültig ob sie an einer Universität ausgebildet wurden oder nicht;  (b) alle übrigen Personen, die eine Universität besucht haben; (c) alle Personen, die eine höhere (älter als 14 Jahre) Schulausbildung im Rahmen der herkömmlichen, klassischen Schulwege genossen haben. 
Ich behaupte bekanntermaßen, daß es heute außer Zweifel steht, daß wir bei weitem zu viele ausgebildete bzw. "hoch gebildete" Menschen haben. 
Das Wort "Überproduktion" verlangt Erklärungen. Es ist vorerst nämlich ohne Sinn, wenn man sagt, daß es bezogen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zu viele ausgebildete Menschen gibt. Es könnte ja auch anders sein: Die Masse der Bevölkerung könnte ja auch - als Beispiel - weit mehr Ärzte und Lehrer gefordert haben, als von den Bildungssystemen geliefert worden sind. Das einzige, was sicher gesagt werden kann, ist, daß es zu viele Männer gab, die für eine begrenzte Zahl von Stellen, die hohes Prestige und Bedeutung haben, ausgebildet wurden. So daß einige dieser Männer sich entweder mit Unterbeschäftigung abfinden mußten, oder die mit Positionen zufrieden sein mußten, die man als weit unter ihren Fähigkeiten stehend ansehen muß. Es gibt bekanntlich eine Kluft zwischen der individuellen Einschätzung des eigenen Wertes und des damit verbundenen Verdienstes, und dem Stellenwert, den eine Gesellschaft diesen Personen zumißt.
Das war auch die These von Eric Hoffer's The Ordeal of Change - Die Angst vor dem Neuen,** die man mit der Eifersucht und der Rache der Schriftgelehrten zusammenfassen könnte. Es ist ein wenig wie die Reporteritis: Reporter berichten über wichtige Ereignisse und kommen dabei leicht in die Lage, sich selbst als bedeutend zu sehen, die für die wichtigen Ereignisse selbst wichtig sind. Nur verrückte Kulturen gestatten freilich, daß das passiert.
Es ging im Endeffekt darum, Bildung als Autobahn zu Wohlstand und Macht zu sehen. Das Ausbildungsdiplom sollte das liefern, was früher die Zugehörigkeit zum Adel garantierte. Gleichzeitig blieb höhere Bildung und Ausbildung mit den klassischen und literarischen Disziplinen verbunden, die man als die angemessene Vorbereitung für die klassischen Berufe ansah. Diese Bildungsberufe haben ihr traditionelles Prestige mehr oder weniger bewahrt. Im Gegenzug wurden dadurch kaufmännische Berufe und die ganze Reihe neuer Berufe abgelehnt und wenig geschätzt, so daß der Druck in Richtung Recht, Medizin, klerikaler und militärischer sowie verwaltungstechnischer Berufe gleichblieb oder sogar anstieg ... 
Diese Situation hat Deutsche in höheren Positionen beunruhigt. Schon im Jahre 1809 hatte Wilhelm von Humboldt den König davor gewarnt, zu viele Männer auszubilden, um dann feststellen zu müssen, daß der Staat unter dem moralischen Druck steht, diese auch in seine Dienste nehmen zu müssen ...
Viele Kritiker des bestehenden Gymnasial-Curriculums meinen, daß dessen Ausrichtung auf ein Studium der Klassischen Studien deshalb wenig klug ist, weil es Graduierte produziert, die jeder praktischen Tätigkeit eine Absage erteilen. Das behindert zum einen die Entwicklung der Wirtschaft des Landes, und steigert zum anderen die Zahl derer, die sich um Positionen beim Staat bewerben. 
Deshalb hat der liberale Reformer des Bildungswesens, Ignaz Heinrich von Wessenberg, schon 1835 geschrieben: "Die Konzentration auf klassische Studien gehört ohne jeden Zweifel zu den schwersten schädlichen Faktoren, die sozialen Zustände betreffend. Denn auf der einen Hand zieht es viele Mitglieder von den produktiven Klassen ab, füllt auf der anderen die Gesellschaft mit Leuten an, die Ansprüche auf Positionen im öffentlichen Dienst erheben, die nicht ohne Nachteile für die gesamte Gesellschaft erfüllbar sind. Denn einer großen Zahl dieser Aspiranten fehlt es an der wahren Eignung für das Beamtentum." 
Die Lage heute ist durch die Einführung von Quoten gemäß rassischer, geschlechterbezogener und auf sexuelle Neigungen bezogener Kriterien bei der Erwerbung von "Bildungsdekreten" noch deutlich schlechter geworden, wo die Fähigkeiten der Quotenleute im Durchschnitt schlechter sind. Bildungsdekrete sind kaum mehr als ein Stück Papier, wie die Erfahrung zeigt, das deren Besitzer aber zeigt, daß er besser ist als es der Wirklichkeit entspricht. Wenn die Anerkennung, die den Dekretbesitzern als Anspruch zugesprochen wird, sich aber dann nicht verwirklichen, entstehen schlechte Gefühle.

Hoffer schreibt, daß nachdem die Pest eine beträchtliche Zahl der Bevölkerung hinweggerafft hatte, einschließlich der Hälfte der europäischen Priester, "eine große Gruppe von nicht-klerikalen Lehrern, Studenten, Gelehrten und Schriftstellern entstand, die nicht mehr Mitglieder einer klar als solche gekennzeichneten privilegierten Klasse waren, und deren soziale Nützlichkeit keineswegs selbstevident war."

Nach wie vor blieb die Macht in den Händen der "handlungsfähigen Männer", und der "Intellektuelle wurde wie ein armer Verwandter behandelt, der die Krumen aufzulesen hatte, die vom Tisch fielen." Selbst "wenn seine Außergewöhnlichkeit anerkannt wird, fühlt er sich dennoch nicht der Elite zugehörig." 
Jeder Stich läßt aber das Pferd ausschlagen
Das ist der Grund, warum der Intellektuelle "auf jeden Hauch eines Reformationsvorhabens angesprungen ist, und zwar bis hin zur letzten nationalistischen oder sozialistischen Bewegung." Nach einem erfolgten Aufstand werden sie aber von anderen starken Männern wieder aus diesen Bewegungen entfernt und "in der Kälte stehen gelassen", denn Intellektuelle sind selten auch Führungspersönlichkeiten.
In Asien und Afrika führte das weitreichende Vordringen der Buchgelehrsamkeit nach westlichem Vorbild zum Aufstieg einer großen Zahl einzelgängerischer Männer des Wortes. Ihre Suche nach einem bedeutenden und nützlichen Leben führte sie - genau wie bei ihren Pendants in Europa - zur Propagierung sozialistischer und nationalistischer Bewegungen.
Hoffer zeigt, wie hebräische Schriftgelehrte und Lehrer, nachdem sie nach der Babylonischen Gefangenschaft in die oberen Schichten vorgestoßen waren, "ihre Vorliebe für die Massen schlagartig aufgaben. Sie schufen sogar ein Wort für den einfachen Bürger, "am-ha-aretz" [ungefähr "Bedauernswerter", "Elender"], ein Begriff, der Spott und Verachtung zum Ausdruck bringt. Soger der an sich sehr freundliche Hillel lehrte, daß "kein am-ha-aretz fromm sein kann." Das findet sich aber nicht nur in der hebräischen Kultur, wie aktuelle Erfahrungen belegen.

Intellektuelle sehen immer das Vordringen in ihr Territorium durch die Massen als "ein Unglück." Nur richtet sich diese Abneigung heute gegen den "Populismus". Der Haß der Intellektuellen auf einfache Leute ist dabei (und wie sollte es anders sein) eine Funktion der Größe der intellektuellen Kaste.

O'Boyle schreibt, daß die Überproduktion von Graduierten unausbleiblich ein großes Reservoir an Frustration und Voreingenommenheit schafft.
Der Literaturkritiker Hermann Marggraff beschrieb 1839 die jüngere Genration als sowohl besser ausgebildet als aber auch fordernder, und in der Folge unzufrieden, denn "bei aller Zusammenballung der Jungen in Bildungsinstitutionen werden nur einige wenige eine Anstellung finden, die ihren Forderungen und Ansprüchen genügt."
Die Ausbildung an einer Universität in Deutschland war kostengünstig. Diese "Kostengünstigkeit" bedeutete, daß selbst ein mittelloser, junger Mann mit halbwegs Verstand und Energie ohne große Probleme höhere Bildung erwerben konnte. Infolgedessen wurde die Universität das allgemeine Mittel zum Aufstieg in der Welt. Das Ergebnis war, daß zu viele junge Männer eine Universität besuchten, und zu viele von ihnen beim Staat eine Anstellung zu erlangen suchten.

Um glaubwürdig zu bleiben, mußte bei vielen eine niedrigere Anstellung ohne Prestige als schmerzhaft empfunden werden. "Edwin Chadwick merkte einmal an, daß zu viele Männer auf einmal eine Universitätsausbildung in Deutschland erhielten. Diese landeten im Endeffekt entweder im Ruin oder in der Unzufriedenheit, und waren zwar für private Dienste ungeeignet, aber auch nicht in der Lage, eine Stellung im öffentlichen Dienst zu finden."
Der Überschuß an gebildeten Männern ... zwingt zu dem Schluß, daß ihre Anwesenheit in einer Gesellschaft zu sozialer und politischer Instabilität sorgen wird ... 
Das Problem könnte sogar in jeder Gesellschaft mit großer Bevölkerung und einem relativ freien Markt chronisch werden. Das Streben nach Anerkennung und des Intellektuellen eigenes Desinteresse an manueller Arbeit ist automatisch die Ursache eines permanenten Überschusses an gebildeten, aber ungebrauchten Talenten. 
Technische Übungen können gewiß einen gewissen Abbau dieses Überschusses bewirken, und diesen Menschen zu guter Letzt doch noch zu gewisser Nützlichkeit verhelfen.  Wäre da nicht auch das Problem, daß heute zu viele junge Leute STEM-Dekrete erhalten, die aber nur sehr mangelhaft den Anforderungen des aktuellen STEM (Science-Technology-Engineering-Mathematics) entsprechen. Man denke an den "Ökologie-Studiengang", oder was auch immer zwar heute den Namen "Studiengang" in sich trägt, aber alles andere als eine akademische Qualifizierung bedeutet.


*Der Leser findet Auszüge sowie Bemerkungen dazu auf den Links in diesem Blog, in Teil 1 (Richelieu) und Teil 2 (Briggs)

**Das Buch von Eric Hoffer ist auf deutsch unter dem Titel "Die Angst vor dem Neuen" in den 1960er Jahren bei Rowohlt erschienen, und antiquarisch zuweilen noch erhältlich.