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Donnerstag, 9. April 2020

Von der Gesellschaft zum eigenen Feind ausgebildet

Übertragung eines Artikels aus dem Boston Globe aus der Feder von Niall Fergusson aus dem Amerikanischen vom VdZ.

Baby-Haie gehen auf die Straße

Baby Shark, do do, do-do, do-do, Baby Shark, do do, do-do, do-do. . . . ”

Ich bin mir nicht sicher ob ich dieses Lied nicht auch phantastisch finden würde, wäre ich fünfzehn Monate alt, und befände mich in einem Auto umgeben von einer Menschenmasse politischer Protestierer wieder. Wobei man ihnen zugute halten muß, daß sie es taten, um einen kleinen Libanesenjungen zu beruhigen, dessen Mutter letzte Woche den Fehler begangen hatte, mit ihrem Auto mitten in einen Protestmarsch zu geraten.

Als Revolutionshymne ist "Baby Shark" jedenfalls etwas unüblich. Die blutdürstige "Marseillese" ist es nicht, nicht einmal die einst so furchterregende, nun jedes Schreckens bare "Internationale". Als die Hippie-Radikalen von 1968 auf die Straßen gingen, war ihre Hymne der klassische Rock' Roll: Das "Revolution" der Beatles oder das "Street Fighting Man" von den Rolling Stones. Wobei ... wenn man es genau überlegt paßt "Baby Shark" - in seiner inhaltsleeren, monoton-repetetiven, dummen, kindischen Art - als Revolutionshymne für unsere Zeit eigentlich doch nicht so schlecht als Hymne.

Die großen revolutionären Wellen der Vergangenheit hatten alle irgendwie die gleichen Ziele, denen kaum jemand widersprechen wird. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Jahre 1789; der nationalistische Frühling der Völker 1848 (und 1989); Friede, Land und Brot 1917; Macht Liebe statt Krieg 1968. Und Sie werden kaum Themen finden, denen so einfach zuzustimmen sein wird wie die in den vielfachen Protesten, die im vergangenen Jahr rund um den Erdball aufgetreten sind. 

In Hong Kong war der Auslöser ein Auslieferungsgesetz, das drohte, die Bürgergesetze der semiautonomen Provinz zugunsten der kommunistischen Partei des Mutterlandes zu überlagern.

In Barcelona, war es etwas anders. Hier nahmen die Protestierer Besitz von der Straße, nachdem über die Anführer separatistischer Bewegungen rigorose Strafen verhängt worden waren, weil diese dafür verantwortlich waren, daß Referenden über die Unabhängigkeit von Katalonien durchgeführt wurden. 


Die Proteste in Beirut wurden, so heißt es, ausgelöst durch einen Plan für Steuern auf WhatsApp. In Quito, der Hauptstadt von Ecuador, haben sie sich bewaffnet, um gegen jene Sparmaßnahmen zu protestieren, die der Internationale Währungs Fond IWF/IMF von der Regierung verlangt hatte. In Santiago, entzündete sich der Protest durch Fahrpreise für Bus und U-Bahn. In Kairo war es Korruption. 

Mittlerweile leidet aber auch London unter Verkehrschaos, weil eine Millenials-Sekte, die sich den Namen Extinction Rebellion gibt und daran glaubt, daß das Ende der Welt nahe ist, und gleichzeitig die Gegner des Brexit, die ihre Niederlage beim Referendum 2016 noch immer nicht überwunden haben abwechselnd auf die Straße gehen. 

Es gab zahlreiche Versuche, zwischen allen diesen bedrohlichen Erscheinungen ein Gemeinsames zu finden. Glaubt man dem BBC, dann protestieren alle und jeder gegen Ungleichheit und Klimawandel. Außerdem gegen Korruption und Unterdrückung. Der amerikanische Ökonom Tyler Cowen freilich schied die Bedeutung von Ungleichheit aus (die in Chile abgeschafft wurde), und meinte daß stattdessen die zu hohen Verbraucherpreise die Ursache seien. Auf derselben Linie fuhr John Authers von Bloomberg. 

Aber nichts davon überzeugt wirklich. "Wir sind nicht hier, weil es uns um WhatsApp geht," meinte einer der libanesischen Protestierer gegenüber BBC. "Wir sind hier einfach wegen allem." Und das scheint der Sache schon ziemlich nahe zu kommen. Was die Proteste im Jahre 2019 alle gemeinsam haben ist nämlich ihre Form, aber nicht ihr Inhalt. Und auf einen ersten, oberflächlichen Blick sind Proteste auch tatsächlich eines der winterharten Gewächse der Geschichte ... Naja, vielleicht nicht ganz.



Zum einen wurden die Proteste von 2019 sämtlich über Smartphones organisiert, die in hohem Tempo dabei sind, ein universelles Werkzeug zu werden. (Social Media haben schon in der Arabischen Revolution 2010-12 eine Rolle gespielt, aber da war sie noch weit geringer.) Smartphones ermöglichen heutigen Protestierern aber, mit minimalem Führungsaufwand auszukommen. Ja, klar, es gibt nach wie vor Individuen, die von den Massenmedien herausgehoben werden, um der Menge ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Aber die Realität ist, daß diese Bewegungen acephalous - kopflos, führerlos - agierende Netzwerke sind. Sie sind weit mehr kollektiv improvisiert als angeführt. Sie sind Jazz, nicht Klassik.

Im letzten Sommer in Hong Kong, zum Beispiel, benutzten die Protestierer ein Reddit-ähnliches Forum (genannt LIHKG), wo Ideen "hinauf-gevoted" (über Zustimmungen nach oben befördert) werden konnten. Von der Menge (Crowd) finanziert und getragen, wurden so Regenschirme und Fahrten von und zur Stadtmitte zur Verfügung gestellt, wo alle Proteste ihren Brennpunkt hatten. Das Organisationsprinzip dieser sehr adaptiven Art des Vorgehens hatte sein Vorbild in einem Stehsatz des legendären Bruce Lee: "Sei wie das Wasser!"

Zweitens sind solche kopf- und führungslosen Netzwerke aus ihrer Natur heraus schwer zu besiegen, wie die Polizeichefin von Hong Kong, Carrie Lam, auf ihre Kosten erfahren mußte. Gleichzeitig hat es das Internet leichter denn je gemacht, Taktiken zu verbreiten. Mittlerweile weiß jeder Möchtegern-Protestierer, wie leicht man eine lokale Wirtschaft als Geisel nehmen kann, wenn man einen Flughafen blockiert.



In einem bestimmten, ja im entscheidenden Punkt ist aber die heutige Form des Protests sehr vertraut. Als ich vor zwanzig Jahren in Oxford Geschichte lehrte war einer meiner Lieblingsartikel über die 1848er Revolutionen der von Lenore O’Boyle, “The Problem of an Excess of Educated Men in Western Europe, 1800-1850.” Das Problem der Übertreibung der Bildung in Westeuropa, 1800-1850.  Ähnliches ist in den 1960ern geschehen, wie der zuletzt bedauerte Norman Stone in seinem unübertrefflich scharfzüngigen Buch über den Kalten Krieg “The Atlantic and Its Enemies." - "Der Atlantic und seine Feinde” feststellt. 

Und wissen Sie was? Wir haben es mittlerweile schon wieder getan. 

Diesmal aber in noch extremerem Ausmaß. In jedem Land, aus dem im Vorjahr Proteste in größerem Ausmaß gemeldet wurden, hat sich die Ausbildung zu noch nie dagewesener Höhe gesteigert.

Vergleiche der Leser dazu einmal die Daten der Weltbank aus dem Jahre 2016, die ungefähr die Zahlen für tertiäre (universitäre) Ausbildung festhalten (als Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung bzw. an der relevanten Altersgruppen), verglichen mit den Zahlen für die späten 1980er Jahre. In Chile hat sich deren Anteil von 18 auf 90 Prozent gesteigert. In Ecuador von 25 Prozent auf 46 Prozent. Ägypten: Von 15 auf 34 Prozent. Frankreich: 34 Prozent zu 64 Prozent. Hong Kong: 13 Prozent zu 72 Prozent. Libanon: 32 Prozent auf 38 Prozent (der kleinste Zuwachs, im übrigen.) Spitzenreiter ist zweifellos die Türkei: Hier stieg der Anteil von 12 Prozent auf sagenhafte 104 (sic!) Prozent. (Die müssen also eine ganze Reihe etwas überalteter Studenten haben.) 

Dies sind also hier die Baby-Haie: Die Übertreibung der Ausbildung unter Menschen, die gegenwärtig die Straßen in den Städten der gesamten Welt erobern. Es ist dabei natürlich wenig hilfreich, daß so viele Professoren die Köpfe ihrer Studenten mit unzusammenhängendem, wirrem Zeugs über "soziale Gerechtigkeit" vollstopfen. Aber ich habe den Verdacht, daß es in Wirklichkeit um das Mißverhältnis zwischen einer noch nie gesehenen Masse von Akademikern und dem realen Bedarf danach geht. 



Ab einem gewissen Zeitpunkt wird aber klar werden, daß dieses künstlich geschaffene Wirtschaftshoch auf ein Chaos hinausläuft, das das Gegenteil von Arbeitsplatzschaffung ist. Bis dahin erwarten Sie ein größeres Verkehrschaos. Zumindest wissen Sie aber, was Sie singen können, wenn ihnen klar wird, daß Sie wenn Sie im Stau stecken von lauter Baby-Haien umgeben sind.



Niall Ferguson ist ein Senior Fellow an der Hoover Institution, Stanford University.



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